Im Gesundheitswesen – wo Effizienz, Präsenz und Präzision als selbstverständlich gelten – kann Neurodivergenz eine zusätzliche Herausforderung darstellen. Nicht unbedingt in der praktischen Arbeit, sondern vor allem darin, das eigene abweichende Funktionsmuster anerkennen zu lassen. Neurodivergente Zustände wie ADHS, Autismus, Dyslexie, Dyspraxie, chronische Angst oder Emotionsregulationsstörungen sind oft unsichtbar. Und wenn sie sich zeigen, werden sie nicht selten als Faulheit, Unhöflichkeit oder Unorganisiertheit missverstanden.
Das eigentliche Problem: Ignoranz und Bagatellisierung
Die größte Hürde ist nicht die Neurodivergenz selbst, sondern die Tatsache, dass sie verharmlost, ignoriert oder in Frage gestellt wird. Besonders kritisch wird es, wenn im schulischen oder praktischen Kontext ein Ausbildner oder eine Ausbildnerin die Legitimität der Diagnose anzweifelt. Sätze wie „Wenn du wirklich ein Problem hättest, würde man das merken“ oder „Du wirkst doch ganz normal“ zeigen eine tief verankerte Vorstellung: Schwierigkeiten müssen sichtbar und klar messbar sein – sonst gelten sie nicht.
ADHS als typisches (aber nicht einziges) Beispiel
Nehmen wir ADHS – eine der häufigsten, aber auch am meisten missverstandenen Neurodivergenzen. Oft wird es auf Unaufmerksamkeit oder Hyperaktivität reduziert. In Wirklichkeit betrifft ADHS jedoch das gesamte System der Aufmerksamkeitssteuerung, Motivation, Arbeitsgedächtnis und Exekutivfunktionen. Eine Person mit ADHS kann:
- einen wichtigen Termin vergessen, obwohl sie den ganzen Tag daran gedacht hat,
- zwei Verabredungen verwechseln, weil ihr Zeitgefühl verzerrt ist,
- brillante Ideen haben, aber keine funktionierende Umsetzungsstrategie,
- desinteressiert wirken, obwohl sie innerlich überfordert ist.
Und all das geschieht oft unter großer Anstrengung, „unauffällig“ zu bleiben – leistungsfähig, angepasst, kompetent zu erscheinen. Der Aufwand ist doppelt. Die Rückmeldung ist fast immer: ungenügend.
Die verborgenen Stärken hinter der Anstrengung
Viele neurodivergente Menschen bringen wertvolle Fähigkeiten für Pflegeberufe mit. Im Fall von ADHS findet man häufig:
- schnelle Reaktion in Notfallsituationen oder dynamischen Umfeldern,
- hohe Sensibilität für nonverbale Signale und emotionale Stimmungen,
- Fähigkeit, scheinbar Unzusammenhängendes schnell zu verknüpfen,
- intensive Aufmerksamkeit bei bedeutsamen oder interessanten Themen,
- originelle Lösungen für praktische Probleme,
- Improvisationstalent in chaotischen oder krisenhaften Momenten,
- ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden und Empathie für Schwache,
- hohe emotionale Tiefe, oft trotz sozialer Ungeschicklichkeit,
- starke Bindung und Hingabe, wenn ein emotionaler Bezug entsteht,
- lebendiges Gedächtnis für besondere Erlebnisse – hilfreich für Beziehungsaufbau mit Pflegeempfängern.
Diese Qualitäten lassen sich nicht leicht mit schulischen Standards erfassen, sind aber im Pflegealltag von unschätzbarem Wert.
Die Last des Nichtverstandenwerdens
Das Paradoxe: Diese Eigenschaften werden nicht nur übersehen, sondern oft als „Charakterschwächen“ abgetan. Lernende mit Neurodivergenz müssen nicht nur wie alle anderen lernen, sondern zusätzlich ständig erklären, warum sie anders lernen, anders reagieren, anders funktionieren. Und das alles, während sie dieselbe Belastung durch Schule, Praktikum, Arbeit (und manchmal auch Familie) tragen.
Viele hören irgendwann auf, darüber zu sprechen. Aus Scham. Aus Erschöpfung. Oder weil sie nach einem Hilfeversuch, der im Zweifel endete, nicht mehr den Mut finden, es nochmal zu versuchen.
Wenn Urteile alles nur schlimmer machen
Ja, es gibt Menschen, die sich für Pflegeberufe tatsächlich nicht eignen. Aber darum geht es hier nicht. Und selbst dann bleibt es ein Fehler, lernende Personen mit verletzenden oder abwertenden Sätzen zu konfrontieren. Eine Lernende, die eine Mappe vergisst oder zu spät zum Rapport kommt, sollte nicht hören müssen: „Du bist nicht geeignet für diesen Beruf.“ Es gibt klare und respektvolle Wege, auch mit kritischen Situationen umzugehen.
Ebenso falsch ist die Annahme, dass Ängstlichkeit, Sensibilität oder emotionale Schwankungen grundsätzlich ungeeignet für Pflegeberufe machen. Wer in der Pflege arbeitet, weiß: Niemand ist dauerhaft stabil – und psychische Grenzen hat jeder. Es geht nicht darum, Probleme zu leugnen, sondern sie zu verarbeiten und daraus Bewusstsein zu entwickeln.
Ausbilden heißt nicht beurteilen
Eine Ausbildung, die nur Standards verlangt, ohne Ausgangslagen und Lernwege zu berücksichtigen, ist nicht inklusiv. Vor allem aber ist sie ineffektiv. Schnellurteile zerstören Prozesse, verhindern Reflexion und brechen die pädagogische Beziehung.
Neurodivergenz braucht keine Sonderbehandlung – sondern Anerkennung. Sie existiert, funktioniert anders und muss gesehen werden, damit sie auch im Gesundheitsbereich gut wirken kann.
Wer ausbildet, bewertet und begleitet, hat eine anspruchsvolle Aufgabe: nicht vereinfachen, aber auch nicht verhärten. Unterschiedliche Arten zu lernen, zu kommunizieren und sich zu organisieren sind keine Mängel – sondern Realitäten, die integriert werden müssen. Es geht nicht darum, Vorteile zu gewähren, sondern das Potenzial nicht zu blockieren.
Denn wer täglich mit dem kämpft, was anderen leichtfällt, entwickelt oft ein tiefes Verständnis für Leid – ein Verständnis, das keine Schulnote je abbilden kann.